Folge 9: Woher kommt diese Freiheit?

7. April 2016, Rehab Basel, Fachklinik für Paraplegiologie und Neurorehabilitation

kragen
Fürs Victory-Zeichen reicht die Kraft noch nicht: Aber für Daumen hoch – trotz diesem verfluchten Kragen. Foto: Stella

Hier liege ich jetzt also. Bis auf weiteres. Die Rehab wird mir später noch sehr ans Herz wachsen. Aus Gründen. Jetzt liege ich einfach da. Sie lassen mich mehr oder weniger in den Tag hinein leben. Ich glaube, mein Körper braucht nur Ruhe. Sehr viel Ruhe.

Der Kragen ist unsäglich. Er drückt ständig auf die Kieferknochen und das ganz dumme: Er verhindert jegliche entspannte Körperhaltung. Insbesondere auf dem Rücken liegen geht auf Dauer nicht. Schön blöd.

Langsam gewöhne ich mich an alles. Die Menschen sind nett und ich fühle mich so seltsam frei. Jawohl, frei! Noch nie fühlte ich eine derart ausgeprägte Freiheit. Vielleicht die Freiheit, keine Entscheidungen treffen zu müssen? Die Freiheit, einfach zu sein? Ich muss ja nicht mal entscheiden, die Zähne zu putzen. Weil ich es gar nicht kann.

Ich gehe vom Bett zum Raucher und wieder zurück. Den ganzen Tag lang. Dann endlich finde ich einen bequemen Sessel. Ich nenne ihn ab sofort «Zauberstuhl», denn ich werde sehr, sehr viele Stunden darin verbringen. Eigentlich sind es Designer-Sessel der Stararchitekten Herzog & DeMeuron, für Patienten völlig ungeeignet, weil viel zu tief. Für meinen gebrochenen Hals sind sie aber perfekt.

Den Kragen darf ich nur nachts gegen einen weicheren austauschen. Aber nicht mal hier kann ich bescheissen, weil ich den Kragen nicht selber wechseln kann. Mit der linken Hand schaffe ich es gerade mal ans Kinn. Der rechte Arm hängt da, wie ein Sack. Ich kann nicht mal eine Flasche Mineralwasser öffnen. Geschweige denn ein Schnitzel zerschneiden, duschen oder …. den Arsch abwischen.

So kam es, dass ich die ersten etwa 10 Tage nichts ass. Fast nichts. Also nichts Festes. Weil ich nicht. Also sie wissen schon…? Das war einerseits dumm von mir. Ich verlor seit dem Unfall 15 Kilo. Andererseits werden wir wegen dieser kleinen Anekdote noch viel zu lachen haben.

Langsam begreife ich vier Dinge:
1. Ich werde sehr bald mit dem Training von Händen und Armen beginnen müssen. «Was bis in einem Jahr nicht heilt, wird bleiben», sagt die Ärztin. Inkomplette Tetraplegie  funktioniert nach dem Motto: «Move it or lose it» – Bewegen oder verlieren.

  1. Zu jeder Tages- und Nachtzeit kann ich problemlos schlafen. Immer. Sobald ich mich hinlege, schlafe ich ein. Mehrmals pro Tag, manchmal sogar im Sitzen. «Hirnschäden können zwei Jahre lang verheilen. Dann bleiben Funktionsstörungen zurück», erklärt die Neurologin.

  2. Meine Rehabilitation hat noch gar nicht begonnen, ich stehe erst am Anfang. Mein Leben erfährt eine wohltuende Entschleunigung. Ich fühle mich frei und mir ist wohl. Jedenfalls im Zauberstuhl

  3. Und ich begreife das hier:

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Nächste Folge:
9. April: Eine neue Freundin – Die Zeit

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